Das Erinnerungsprojekt

Seit 24 Jahren arbeite ich als Pastoralreferent in den beiden Bochumer Strafvollzugsanstalten. Dieses Erinnerungsprojekt führe ich jedoch nicht in dienstlicher, sondern in privater Initiative durch. Das Thema der politischen Gefangenen im ehemaligen Strafgefängnis Bochum-Krümmede war mir bis vor drei Jahren völlig unbekannt. Über die Geschichte der Judenverfolgung und der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Bochum hatte ich Einiges gehört. Sehr überrascht war ich jedoch, als ich feststellen musste, dass auch mein Arbeitsplatz ein Schicksalsort nicht nur für kriminelle Gefangene war, sondern auch für solche, die wegen Widerstandhandlungen gegen den Nationalsozialismus inhaftiert wurden. Ebenso überrascht war ich, über diese große Opfergruppe in Bochum kaum Informationen zu finden.

Durch einen außerordentlichen Zufall stieß ich 2013 auf den „Fall Reuland“. Der Priester Josef Reuland stammt aus meiner Trierer Heimat. Er saß 1944/45 in Bochum einen Teil seiner 7-jährigen Haftstrafe ab. Verurteilt wurde er beim Volksgerichtshof Berlin von Dr. Freisler persönlich wegen unwahrer hetzerischer Behauptungen über die Religionsfeindschaft des Nationalsozialismus. Am 29.3.1945 erlitt und überlebte er bei der Evakuierung des Strafgefängnisses einen Genickschuss in der Nähe der Wittener Straße. Beim Besuch seines Grabes in Greimerath bei Trier traf ich vor drei Jahren seine Nichte, eine inzwischen ältere Dame. Sie gab mir die größtenteils unveröffentlichten von Reuland mit Schreibmaschine getippten Erinnerungen über seine Haftzeit. Diese waren für mich ein erstes Fenster in die dunkle Zeit im Schicksalsort Gefängnis Bochum. Der Fall Reuland geriet zum Einstieg in dieses Erinnerungsprojekt.

Denn in den Erinnerungen Reulands finden sich zahlreiche Hinweise auf weitere Gruppen von Personen, deren Engagement nicht mit den Zielen der NSDAP übereinstimmte und die dadurch in Haft gerieten. Darunter waren viele Kommunisten und Mitglieder der Arbeiterbewegung, aber auch Scharen von Gefangenen aus den Beneluxländern, die in ihrer Heimat in Widerstandhandlungen verwickelt waren, darunter u.a. ein belgischer Professor und ein holländischer Arzt. Beide pflegten als Mitgefangene Josef Reuland nach dem Mordversuch im Gefängnislazarett in den Wochen, bis er nach Befreiung der Anstalt durch die Amerikaner ins Josefshospital verlegt wurde.

So war mein Interesse an der Suche nach weiteren politischen Opfern geweckt. Wie sollte ich Namen und Gesichter von betreffenden Personen finden, wenn es im Gefängnis Bochum keine und im Landesarchiv Münster fast keine Gefangenenakten gibt? Ich habe zunächst die geographischen Register einiger Standardwerke durchgesehen unter dem Stichwort „Bochum“. Fündig wurde ich nur in „Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts“ von Helmut Moll. Neben Reuland gab es im Strafgefängnis Bochum weitere Kleriker, darunter eine Reihe, die ihre Odyssee durch Strafanstalten und Lager des Reiches nicht überlebten. Aus der Gruppe der wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilten Kommunisten ragt heraus der auch in Bochum inhaftierte spätere Regierungspräsident von Thüringen Werner Eggerath. Er hat seine Erinnerungen in einem Buch zusammengefasst unter dem Titel „Nur ein Mensch“ (1947) mit vielen Details zu Bombenentschärfungseinsätzen im Bereich der Reichsbahn Langendreer.

Meine Hauptquelle wurde bald das Internet. Unter den Suchworten „Bochum – Gefängnis – Zuchthaus – verstorben – hingerichtet – 1933, 1942, 1945 usw.“ in Deutsch, Niederländisch und Französisch stieß ich bald auf Gedenkseiten und Artikel zu Personen, die aus den gesuchten politischen Gründen inhaftiert waren. Für einige dieser Opfer hatte man in verschiedenen Städten Deutschlands sog. „Stolpersteine“ gelegt. An andere, deren Weg über das Gefängnis Bochum verlief, wurde in ihren Herkunftsorten oder letzten Wohnorten durch Straßenbenennungen oder Gedenktafeln erinnert. Unter den deutschen Internetgedenkseiten seien exemplarisch erwähnt das Opferbuch der Stadt Recklinghausen

und die Hamelner Dokumentation zu den Opfern der NS-Zeit. Es gab von Bochum aus nach den Bombenangriffen auf die Stadt und auch die Strafanstalt ab 1943 einige größere Transporte insbesondere von Benelux-Gefangenen ins Zuchthaus Hameln und in Lager im Osten des Reiches.

Mit Hilfe der Hamelner Dokumentation (siehe hier die Texttafel unter Nr. 3) und mit Hilfe der belgischen Seite www.getuigen.be des Soziologen Jan Hertogen gewann ich tieferen Zugang zum Schicksal der sog. Nacht-und-Nebel-(NN)-Gefangenen. Nach dem NN-Erlass Hitlers vom Dezember 1941 wurden Tausende von verdächtigen Personen insbesondere aus Nordfrankreich, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden heimlich in die Strafgefängnisse und Zuchthäuser im Westen des Reiches verbracht. Bei Verwürfen der Spionage, der Sabotage und von Widerstandshandlungen jeglicher Art wurden sie heimlich deportiert und in Geheimverfahren vor den Sondergerichten (etwa SG Essen) abgeurteilt. Ihr spurloses Verschwinden sollte der Abschreckung in den besetzten Ländern dienen. U.a. waren mir folgende Internetseiten hilfreich; sie stehen stellvertretend für viele weitere Gedenkseiten und Namenslisten: www.bel-memorial.org; http://blog.seniorennet.be/wereldoorlog2_concentratiekampen3/; www.oranjehotel.org/wp-content/uploads/Namen_Weber.pdf.

Im Bochumer Strafgefängnis mit seinen vier Außenkommandos befanden sich 1943 über 1100 dieser NN-Gefangenen. Einzelne von ihnen haben ihre Erinnerungen über diese Zeit genauestens aufgeschrieben.
So etwa Georges Michotte «À l'ombre de la guillotine: le récit d'un condamné à mort» oder Jean Hoffmann, «Mémoires de guerre » (qui nous raconte sa mobilisation, son action dans la Résistance, son arrestation par les nazis et sa déportation dans les camps allemands) oder Louis Vandenbemden, «Quararante six mois de bagnes au cours des hostilités» (Manuscript 1945) (siehe getuigen.be). In diesen Erinnerungen finden sich viele Einzelheiten zur Bochumer Haftsituation und zur Lage der Politischen in den Kriegsjahren.

Eine wichtige Quelle wurden mir schließlich in Ermangelung der Gefangenenakten die Sterbebücher des Standesamtes Bochum Mitte, aufbewahrt im Bochumer Stadtarchiv. Von 1941 bis 1945 durchsuchte ich diese vor allem nach gemeldeten Sterbefällen aus der „Krümmede 3“. Für diese Zeit fand ich 312 gemeldete Sterbefälle im Strafgefängnis und 22 allein im November 1944 im Gerichtsgefängnis an der ABC-Straße. 117 Todesfälle von Franzosen, Niederländern und Belgiern sind notiert. Fast alle diese NN-Gefangenen finden sich auch auf Internetgedenkseiten ihrer Heimatländer. Manchmal kannte ich einige dieser verstorbenen NN-Inhaftierten aus den Sterbebüchern schon aus Quellen ihrer Heimatländer, manchmal stieß ich durch das Auffinden in den alten Standesamtsbüchern auf weitere Artikel im Internet des Heimatlandes. Bei den verstorbenen deutschen Bürgern konnte ihre politische Verfolgung nur dann ausgemacht werden, wenn diese aus anderen Quellen, etwa der Stolpersteinliste, bestätigt wurde. Es ist davon auszugehen, dass es neben den kriminellen Inhaftierten noch eine Anzahl überlebender, aber auch in Haft verstorbener unbekannter deutscher politischen Gefangenen gibt, deren Geschichte nicht mehr rekonstruiert und aus der Vergessenheit hervorgeholt werden kann.

Nicht zuletzt gab es auch unmittelbare Kontakte zu Zeitzeugen. So sprach ich mit der Schwester (!) und den Kindern des inhaftierten Niederländers Gerardus Lamers, mit dem Sohn des inhafterten Kommunisten Heinz Junge, mit einem Gemeindemitglied (damals 10 Jahre) des hier in Haft verstorbenen Pfarrers Anton Spieker, mit der Nichte des bei der Evakuierung schwer verletzten Josef Reuland, auch mit einigen anderen Verwandten von Inhaftierten.

Bedanken will ich mich bei einigen, die mir mündlich Auskunft und Informationen über die mir bisher sehr unbekannte Zeit 1933-1945 am Schicksalsort Gefängnis Bochum und insbesondere die politischen Gefangenen gegeben haben. Stellvertretend nenne ich den mittlerweile pensionierten evangelischen Gefängnisseelsorger von Münster Dieter Wevers, der mir 2013 den allerersten Tipp (zu Reuland) gab, Wolfgang Dominik und Günter Geising von der VVN-BdA Bochum, die mir verschiedene Hintergrundinformationen gaben, und den belgischen Soziologen Jan Hertogen, der viele Texte und Bilder zu den NN-Gefangenen ins „Netz“ gesetzt hat und den Hamelner Historiker Bernhard Gelderblom. Ihm sei auch gedankt für die Erlaubnis, zwei Texttafeln seiner Hamelner Dokumentation zu veröffentlichen unter Abschnitt 3. Sie zeigen das Einzelschicksal des jungen Belgiers Gustave Vandepitte, der im Strafgefängnis Bochum und im Außenlager Henrichshütte Hattingen inhaftiert war, und sie zeigen exemplarisch das Deportationsnetz der Inhaftierten. Nicht wenige der Politischen erlebten oder erlitten bis zu ihrer Befreiung oder bis zu ihrem Tode eine Odyssee durch zwanzig und mehr Strafanstalten des Reiches.

Großen Dank sage ich auch Frau Dr. Wölk, Hr. Dr. Petzold und dem Team aus dem Stadtarchiv/ Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte. Es war nicht meine Initiative, sondern die des Stadtarchivs, meine Stellwände und Texte zum Thema der Politischen im Strafgefängnis Bochum in der NS-Zeit ins Haus zu holen, sie aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen in Form einer Ausstellung. Dadurch kann ein Anstoß gegeben werden, sich historisch weiter mit dem Thema zu befassen. Vor allem wird eine große Opfergruppe aus der Vergessenheit hervorgeholt und den damaligen Widerständlern wieder ein Gesicht gegeben. Ihnen wird die verdiente Erinnerung und späte, jedoch nicht zu späte Ehrung zuteil in der Stadt eines entscheidenden Schicksalsortes ihres Lebens.

Bochum im Juni 2016

Alfons Zimmer